William Speirs Bruce: die Scottish National Antarctic Expedition (1902-04) mit der Scotia
Die „schottsiche nationale Antarktisexpedition“, wie die Scotia-Expedition offiziell hieß, gehörte neben der Discovery (Scott), der Antarctic (Nordenskjöld) und dem Gauß (Drygalski) zu dem Reigen der Forschungsunternehmen, die direkt dem Ruf des Internationalen Geographischen Kongresses 1895 in London nach verstärkter Anstrengung in der Antarktis-Forschung gefolgt waren. In Absprache mit diesen war das östliche Weddellmeer das Ziel der schottischen Expedition, um die Antarktis insgesamt von möglichst allen Richtungen gleichzeitig zu bearbeiten, vor allem im Interesse koordinierter Forschungen in den Bereichen Meteorologie und Erdmagnetismus.
Der Schotte William Speirs Bruce (1867 – 1921), geboren in London, hatte mit dem Medizinstudium begonnen, aber früh ein Interesse für die naturkundlichen Fächer entwickelt. Als er die Gelegenheit bekam, als Wissenschaftler eine Expedition zu begleiten, die in antarktischen Gewässern die Möglichkeiten des Walfangs zu untersuchen, zögerte er nicht lange. Auch wenn die Dundee Whaling Expedition (1892–93), die in den Gewässern der Falklandinseln gearbeitet hatte, sich als Enttäuschung herausstellte, war Bruce’s Interesse auf den tiefen Süden geweckt. 1895 lud der norwegische Walfang-Pionier Svend Foyn ihn ein, mit dem Walfangschiff Antarctic unter Kapitän Kristensen in die Antarktis zu fahren, aber Bruce schaffte es nicht rechtzeitig nach Melbourne. Damit verpasste er die großartige Chance, zu den ersten zu gehören, die auf der Antarktis eine gut dokumentierte Landung machten; stattdessen schaffte der Norweger Borchgrevink es an Bord der Antarctic und am 23. Januar 1895 am Kap Adare an Land.
1896-97 nahm Bruce an der Jackson-Harmsworth Expedition in Franz Josef Land teil und traf dabei auch völlig zufällig auf Fridtjof Nansen und dessen Begleiter Hjalmar Johansen. 1898 folgte eine private Yachtexpedition mit der Blencathra, die dem reichen Textilfabrikanten Andrew Coats gehörte, dessen Name ein paar Jahre später auf der Landkarte der Antarktis erscheinen sollte. Mit der Blencathra fuhr Bruce nach Novaya Zemlya. Noch im gleichen Sommer bekam er die Gelegenheit, Fürst Albert I. von Monaco auf dessen ozeanographischer Expedition nach Spitzbergen zu begleiten, der Fürst lud ihn auch auf seiner 1899 folgenden Spitzbergen-Expedition ein. Auf all diesen Reisen widmete William Bruce sich ausführlich der biologischen und physischen Ozeanographie und empfahl sich so als Wissenschaftler.
William Speirs Bruce, Organisator und Leiter der schottischen Scotia-Expedition (1902-04).
Mit diesen Referenzen konnte Bruce sich bei Clements Markham, dem Präsidenten der Royal Geographical Society, um eine Stelle bei der National Antarctic Expedition bewerben, die als Scotts Discovery-Expedition erfolgreich ausgeführt und bekannt wurde. Als seine reichen Freunde in Schottland ihm die Finanzierung einer eigenen Antarktis-Expedition zusagten, änderte Bruce jedoch seine Meinung, sehr zum Ärger Markhams. Dabei hatte Bruce ursprünglich sogar angeboten, das schottische Schiff zum Teil der englischen Expedition zu machen. Das Ergebnis des Streits war eine eigenständige schottische Expedition und die warmherzige, langandauernde Feindschaft zwischen Bruce und Markham.
So begannen die Vorbereitungen der Scottish National Antarctic Expedition (SNAE) im Herbst 1901 mit dem Ankauf des norwegischen Walfängers Hekla, aus dem nach umfangreichen Umbauten das schottische Forschungsschiff Scotia wurde, ein Dreimaster mit zusätzlicher Maschine, bestens gerüstet für ozeanographische Arbeiten in antarktischen Gewässern.
Das schottische Expeditionsschiff Scotia bei Laurie Island.
Die Scotia verließ Schottland am 02. November 1902 mit 32 Männern an Bord, darunter 6 Wissenschaftler, Bruce mit eingeschlossen, und erreichte Stanley (Falklandinseln) im Januar 1903. Schon bald nach der Weiterfahrt stieß die Expedition am 03. Februar nördlich der Südorkney Inseln auf Eis, aber es gelang, die Südorkneys zu erreichen und dort auf Saddle Island wissenschaftlich zu arbeiten, beovr die Fahrt weiter nach Süden fortgesetzt wurde. Gegen Ende Februar erreichte die Scotia im Weddellmeer 70°25′S, eine hohe Breite in diesen Gewässern. Allerdings war weit und breit kein geeignetes Land für den Bau der geplanten Überwinterungsstation in Sicht und der kurze Sommer ging zu Ende, so dass Bruce sich gezwungen sah, den Plan einer Überwinterung möglichst nah am Pol zugunsten einer Station auf den Südorkney Inseln aufzugeben.
Die Südorkney Inseln.
Dort dauerte es eine Weile, einen geeigneten Platz zu finden, aber schließlich lief die Scotia bei Laurie Island in eine geschützte Bucht ein, wo es genügend Platz zum Bau einer Station gab. In kurzer Zeit wurde dort ein solides, 6×6 Meter messendes Haus aus Steinen gebaut, genannt Omond House, nach Robert Omond, Direktor des Edinburgh Observatory. Dort quartierten sich 6 Männer ein, um regelmäßige meteorologische und magnetische Messungen zu machen. Die Scotia wurde in der benachbarten Bucht absichtlich eingefroren, so dass die gesamte Mannschaft bei Laurie Island überwinterte und auch geologische, geographische und biologische Forschung geleistet werden konnte. Insgesamt verlief der Winter planmäßig, nur der Maschinist Allan Ramsay starb am 06. August 1903 an einer Herzkrankheit. Er wurde an Land begraben.
Omond House: das schottische Überwinterungshaus auf Laurie Island, Südorkney Inseln.
Erst am 23. November brach das Eis auf, so dass die Scotia wieder manövrierfähig wurde. Bald darauf setzte sie Kurs auf die Falklandinseln und Argentinien, wobei 6 Männer auf Laurie Island im Omond House zurückblieben.
Omond House (2009).
In Buenos Aires machte Bruce sich daran, die argentinische Regierung zur Übernahme und zum langfristigen Betrieb der Station auf Laurie Island zu bewegen. Britische Diplomaten redeten den argentinischen Politikern gut zu, und am 20. Januar 1904 wurde ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet. Man muss sich das aus heutiger Perspektive mal vorstellen: ein Schotte bringt die Argentinier dazu, sich im Südatlantik zu etablieren, und die Engländer unterstützen das auch noch. Das passiert so schnell nicht noch mal! Tatsächlich ging es Bruce ausschließlich um den dauerhaften Betrieb der wissenschaftlichen Arbeiten, und die britische Regierung war nicht gewillt, diese Aufgabe zu übernehmen. Bruce wendete sich in Buenos Aires zunächst nicht an die argentinische Regierung, sondern an den britischen Repräsentanten, und dieser wiederum trat an die Argentinier heran. Aus späterer Sicht war das ein Riesenfehler, denn die nun beginnende Dauerpräsenz auf den Süd Orkney Inseln war das stärkste argentinische Argument für spätere Ansprüche in der Region.
Orcadas Base, Laurie Island. Hier führen Argentinien die von der Scotia-Expedition begonnenen Beobachtungen bis heute fort.
Aber zurück zur Expedition von Bruce. Nachdem die künftige Zuständigkeit für die Station geregelt und ein paar personelle Veränderungen vorgenommen waren, einschließlich der argentinischen Mannschaft für die Wetterstation, die zunächst noch ein Jahr unter schottischer Anleitung stehen sollte, war keine Zeit mehr zu verlieren, und schon am 21. Januar verließ die Scotia Buenos Aires. Nachdem die neue Besatzung sich in Omond House eingerichtet hatte – die Leitung blieb, wie schon zuvor, bei Robert Mossman – wurde ein zweiter Vorstoß ins Weddellmeer gemacht.
Dieses Mal wurde bis südlich des Polarkreises kein Eis vorgefunden, und die Weiterfahrt nach Süden gelang problemlos, bis die Scotia am 03. März bei 72°18’S/17°59’W dichtes Packeis vor dem Bug hatte. Eine Lotung ergab eine Wassertiefe von 2068 Metern, deutlich weniger als die über 4000 Meter vorheriger Messungen, was darauf hindeutete, dass Land nicht mehr fern war. Trotz mehrtägiger Versuche gelang es nicht, diesem Land wesentlich näher zu kommen, aber immerhin kam es am Horizont in Sicht. Bruce nannte es nach seinem Hauptsponsor Coats Land. Es gelang nicht, das Land zu erreichen. Am 09. März steckte die Scotia bei 74°01’S, ihrer südlichsten Position, fest im Eis, und für eine Weile sah es ganz danach aus, als würde das Schiff den Winter treibend im Eis verbringen müsste, ein Schicksal, das in dieser Gegend 1911-12 Wilhelm Filchers Deutschland und 1915 Shackletons Endurance ereilte. In diesen Tagen der erzwungenen Untätigkeit entstand das berühmte Foto, das einen schottischen Dudelsackspieler (Gilbert Kerr) zeigt, der einen Kaiserpinguin musikalisch beglückt.
Das berühmte „Dudelsack-Foto“, wo Gilbert Kerr in bester Schottenmanier einen Kaiserpinguin mit Dudelsacktönen verwöhnt. Auf anderen Versionen des Fotos ist aber zu sehen, dass Kerr den Pinguin mit einer Schnur am Fuß festgebunden hatte, damit er nicht weglaufen konnte!
Aber auch das wissenschaftliche Programm wurde mit Lotungen und aufwändigen biologischen Probenahmen bei jeder Gelegenheit fortgesetzt. Nach nur wenigen Tagen, am 13. März, löste sich das Eis, die Scotia konnte wieder Dampf aufnehmen und nach Nordosten fahren.
Nach einem Abstecher nach Gough Island, immerhin dem ersten Besuch einer wissenschaftlichen Expedition dort, erreichte die Expedition am 06. Mai Kapstadt und am 21 Juli 1904 Schottland, wo es einen warmen Empfang gab. Weniger warm war allerdings die Reaktion aus London, abgesehen von einem Glückwunschtelegramm von König Georg VII. Die begehrten Polarmedaillen der Royal Geographical Society, die großzügig nicht nur an die Teilnehmer von Scotts Discovery-Expedition vergeben wurden, sondern auch an die australische Aurora-Expedition von Mawson und (später) an Shackletons Leute nach allen seinen Expeditionen. Sogar in Schottland geriet die Scottish National Antarctic Expedition, die öffentlich bald im Schatten der spektakulären Ereignisse folgender Expeditionen von Scott, Shackleton und Amundsen stand, noch zu Bruce’s Lebzeiten mehr oder weniger in Vergessenheit. Wissenschaftlich aber war sie äußerst erfolgreich. Neben den mit den anderen Expeditionen (Drygalski, Nordenskjöld, Scott) abgesprochene Messreihen waren es vor allem die marinbiologischen Sammlungen, die zur Entdeckung hunderter neuer Planktonarten führte. Der letzte Band der Ergebnisse wurde 1992 (ja, 1992) veröffentlicht. Bruce kehrte nicht in die Antarktis zurück, arbeitete aber noch mehrfach in Spitzbergen, auch bei der Erkundung von Kohlevorkommen. Die kleine Hüttensammlung Brucebyen im Billefjord erinnert dort an den schottischen Polarfahrer.
Direkt neben Omond House steht heute die argentinische Station Orcadas Base. Die argentinische Regierung hat Wort gehalten und führt die von der Scotia-Expedition 1903 begonnenen Messungen bis heute lückenlos fort. Damit geht die am längsten kontinuierlich arbeitende Station in der Antarktis auf die Scottish National Antarctic Expedition von William Speirs Bruce zurück.