Ernest Shackleton: die Nimrod-Expedition (1907-09)
Shackleton hatte an Scotts Discovery-Expedition teilgenommen und hatte dabei seine Berufung entdeckt. Es war nur eine Frage von Zeit und Geld, bis er als sein eigener Chef in die Antarktis zurückkehren würde.
Bei allen Unterschieden zwischen den großen Charakteren war es der Mangel an Geld, der vor allem Shackleton und Amundsen miteinander verband. Für Shackleton war die Finanzierung besonders schwierig, da er weder auf die volle Unterstützung der wichtigen Royal Geographical Scociety bauen konnte, die eher seinem alten Chef Scott zugeneigt war, noch bei wichtigen Sponsoren einen allzu guten Ruf hinsichtlich der finanziellen Zuverlässigkeit hatte. So hatte er bei seinem zeitweiligen Arbeitgeber, dem industriellen William Beardmore, nicht einmal seinen eigenen Lohn regelmäßig abgeholt. Schließlich aber kamen die notwendigen Mittel durch mehrere große und viele kleine private Spenden, offizielle Unterstützung aus Australien und Neuseeland und Kredite zusammen, so dass Shackleton seine Expedition im Februar 1907 öffentlich ankündigen konnte. Wie auch Amundsen und so mancher andere Entdecker, war er dennoch gezwungen, für die Expedition Mittel in die Hand zu nehmen, die er erst später durch Bücher und Vorträge einzunehmen hoffte. Sein größter privater Geldgeber war Beardmore, dessen Name seit der Nimrod-Expedition mit dem Gletscher verbunden ist, der 1908/09 für Shackleton und 1911/12 für Scott der Weg Richtung Südpol war.
Ernest Henry Shackleton, Organisator und Leiter der britischen Nimrod-Expedition (1907-09).
Der Südpol war Shackletons primäres Ziel, seine persönlichen wissenschaftlichen Interessen waren recht begrenzt, im Gegensatz zu Scott, der zwar ebenfalls kein Wissenschaftler war, aber ein starkes Interesse an der Forschung entwickelte. Für Shackleton war die reine Wissenschaft eher Mittel zum Zweck: Er wusste, dass er ohne ein wissenschaftliches Programm keine Unterstützung für eine Expedition bekommen würde.
Für die eigentliche Vorbereitung blieb wenig mehr als ein halbes Jahr. Die Wahl der Transportmittel der der Expeditionen jener Zeit wurde und wird kontrovers diskutiert. Aufbauend auf seinen Erfahrungen während der Discovery-Expedition und dem Rat des Arktis-Forschers Frederick Jackson, setzte Shackleton weitgehend auf 15 zähe, mandschurische Ponys.
Die Ponies beim Lager auf der „Barriere“ (der Ross-Eisschelf).
Auch die moderne Technik sollte in Form eines 15 PS Automobils ihre Chance in der Antarktis erhalten. Mit den während der Discovery-Expedition eingesetzten Hunden und Skiern war Shackleton nicht so recht warm geworden, so dass er plante, im Notfall die Schlitten mit Muskelkraft und zu Fuß zu ziehen, entgegen dem Rat von Größen wie Fridtjof Nansen. Shackleton musste später zugeben, dass die ursprünglich 9 Hunde besser gearbeitet hatten als erwartet. Im Gegensatz zu den Pferden vergrößerten die Hunde ihre Anzahl in der Antarktis von selbst (auf 22) und konnten vor Ort mit Robben und Pinguinen gefüttert werden, was man beides weder von den Pferden noch vom Auto behaupten konnte. Das Auto brachte sowieso nicht viel mehr Nutzen als einigen Pressewirbel, es wurde aber zu kürzeren Transportfahren auf dem Eis im McMurdo Sound benutzt. Später wurde gesagt, es sei typisch für Shackleton, ein Auto mitzunehmen, aber nicht, das Skilaufen zu lernen. Das Auto stammte übrigens aus einer Fabrik von Shackletons Gönner William Beardmore. Vielleicht hatte das dazu beigetragen, dem Vehikel einen Platz an Deck der Nimrod zu verschaffen.
Das erste Auto in der Antarktis, oft „the motor“ genannt.
Das erste Auto in der Antarktis bei einer wenig vorteilhaften Art der Fortbewegung.
Einen großen Teil der Ausrüstung besorgte Shackleton während einer hastigen Shopping-Tour in Norwegen im April 1907, wobei aufgrund des Zeitdrucks nicht alles in der üblichen Qualität hergestellt werden konnte. Auch reichte das Geld nicht für das Schiff Bjørn, das den ursprünglichen Vorstellungen entsprach, so dass Shackleton schließlich gezwungen war, sich mit der überholungsbedürftigen Nimrod (Baujahr 1865) zu begnügen, die gerade halb so groß war wie die Discovery.
Die Nimrod im Eis.
Shackleton hatte gehofft, eine ganze Reihe erfahrener Kollegen von der Discovery-Expedition zur Teilnahme bewegen zu können, war damit aber nicht allzu erfolgreich. Letztlich begleiteten ihn von der Discovery-Mannschaft nur Ernest Joyce (verantwortlich für Vorräte, Hunde, Schlitten und zoologische Sammlungen) und Frank Wild (Verpflegung). Darüber hinaus griff er auf alte Bekannte aus seiner Zeit bei der Handelsmarine zurück oder verließ sich auf Empfehlungen. So kam er unter anderem einem australischen Geologen namens Douglas Mawson, der ein paar Jahre später bei seiner eigenen, dramatischen Antarktis-Expedition zu Ruhm kommen sollte. Der 20-jährige Philip Brocklehurst kam als Assistenzgeologe mit und weil er die beträchtliche Summe von 2000 Pfund zur Expeditionskasse beisteuerte.
Die Überwinterungsmannschaft der Nimrod-Expedition am Kap Royds. Stehend von links: Joyce, Day, Wild, Adams, Brocklehurst, Shackleton, Marshall, David, Armitage, Marston. Sitzend: Priestley, Murray, Roberts.
Der Plan sah drei große Reisen vor: eine „eastern party“ sollte das früher nur in der Entfernung gesichtete King Edward VII Land erkunden. Eine „western group“ sollte durch die „western mountains“ (das Transantarktische Gebirge) das Plateau erreichen und dann zum Magnetpol vorstoßen. Die Hauptreise schließlich war der Versuch, so weit es ging nach Süden zu kommen, wenn möglich bis zum Pol. Für das Basislager sollte eine geeignete Stelle im King Edward VII Land gefunden werden. Den McMurdo Sound wollte Shackleton vermeiden: Der öffentlich einfach kommunizierbare Grund war, dass das King Edward VII Land noch unbekannt war, so dass dort viele neue Entdeckungen möglich sein würden. Tatsächlich wollte Shackleton aber vermeiden, in offener Konkurrenz zu seinem alten Chef Scott aufzutreten, dem er nun in respektvoller Rivalität verbunden war. In Briefen und Treffen hatte Scott, unterstützt von Edward Wilson, Druck aus Shackleton ausgeübt, sich von „seinem“ Revier im McMurdo Sound fernzuhalten. Shackleton war so überloyal, sich damit einverstanden zu erklären und damit seine Expedition und das geplante Programm unwägbaren Risiken auszusetzen, da der neue Standort noch völlig unbekannt war. Er stellte dies aber unter den Vorbehalt brauchbarer Eis- und Geländebedingungen, und letztlich war es das Eis, was ihn zu seinem Glück doch in den McMurdo Sound zwang. Die Nimrod sollte den Winter in Neuseeland verbringen.
Abreise und Überwinterung
Am 07. August 1907 legte die Nimrod in Torquay an Englands Südküste ab. Shackleton und die Wissenschaftler gingen erst in Neuseeland an Bord, wie auch die 10 Pferde und 9 Hunde. Das Schiff verließ am 01. Januar 1908 in Lyttelton endgültig die Zivilisation. 15 Tage lang wurde die Nimrod von dem Schlepper Koonya gezogen, um die trotz Überladung knappen Kohlevorräte zu schonen. Der Kapitän der Koonya, Frederick Evans würde im folgenden Jahr Kapitän England als Kommandanten der Nimrod ablösen; wie sich zeigen sollte, hatte Shackleton auf der Nimrod aber kein Glück mit seinen Kapitänen. Die Expedition geriet südlich von Neuseeland in so schweres Wetter, dass ein Hund an Deck ertrank und ein Pferd sich so schwer verletzte, dass es erschossen werden musste.
Die Nimrod neben einem Eisberg.
Nach schneller Passage des Packeises erreichte die Expedition am 23. Januar 1908 den Ross Eisschelf. Dieser hatte sich seit dem Besuch der Discovery stark verändert. Eine Einbuchtung mit vielen Walen nannte Shackleton Bay of Whales. Versuche, weiter nach Osten zum King Edward VII Land vorzustoßen, scheiterten am Eis, so dass Shackleton sich letztlich gezwungen sah, Kurs auf den McMurdo Sound zu setzen, wo die Expedition am 29. Januar eintraf. Die Überwinterung auf dem Schelfeis in der Bay of Whales war ein Risiko, das Shackleton scheute. Zu sehr hatte der offensichtlich instabile Rand des Eisschelfs sich verändert, seit er mit der Discovery vor nur wenigen Jahren dort gewesen war. Roald Amundsen nahm dieses Risiko ein paar Jahre später auf sich und hatte in der Bay of Whales, die südlicher liegt als der McMurdo Sound, durch den kürzeren Weg zum Südpol eine bessere Ausgangsposition für seinen Südpol-Erfolg von 1911. Der Entfernungsvorteil in der Bay of Whales gegenüber Kap Royds, wo Shackleton stattdessen überwinterte, betrug immerhin gut 100 Kilometer, eine nicht unerhebliche Distanz, wenn man sich überlegt, dass Shackleton ein paar Monate später 180 Kilometer vom Südpol entfernt zur Umkehr gezwungen war.
Die Bay of Whales.
Es folgte gleich eine ganze Serie von Rückschlägen: der Weg zum Hut Point, der Überwinterungsstelle der Discovery ganz im Süden des McMurdo Sound und die Stelle mit dem kürzesten Weg zum Südpol, war vom Eis versperrt. Ein Hund ertrank, als er von einer Klippe fiel; direkt davor hatte er im Blutrausch viele Pinguine getötet. Ein weiteres Pferd musste erschossen werden, Seekrankheit und Kälte hatten ihm zu stark zugesetzt. Der zweite Offizier Mackintosh verlor beim Ausladen durch den schwingenden Haken des Krans ein Auge und fiel somit zu seinem und Shackletons Bedauern für die Überwinterung aus. Das Auto blieb im Schnee stecken.
Da das Eis nicht aufbrechen wollte, entschied Shackleton sich, das Basislager am Kap Royds zu errichten, 37 Kilometer nördlich von Hut Point, aber davon abgesehen ein guter Standort mit Frischwassersee und einer Pinguinkolonie. Das Ausladen nahm viel Zeit in Anspruch, auch weil Kapitän England die Nimrod übervorsichtig oft fern von der Küste hielt, wenn treibendes Eis und schlechtes Wetter dies seiner Ansicht nach erforderlich machten. Dies führte zu Konflikten mit der Mannschaft, die sich teilweise gegen England stellte, und letztlich dazu, dass Shackleton ihn bei der Rückkehr des Schiffes im Jahr darauf ersetzen ließ.
Shackletons Hütte am Kap Royds (2013).
Ende Februar war die Hütte bezugsfertig (Hier klicken für 360 Grad Panoramabilder von Shackletons Hütte am Kap Royds). Abgesehen von Shackleton, der eine Kabine für sich hatte, wohnten alle in einem Gemeinschaftsraum. Darin unterschied der Offizier der Handelsmarine Shackleton sich vom Navy-Kapitän Scott, der für eine strengere Trennung zwischen Offizieren und Mannschaft sorgte.
Shackletons Hütte am Kap Royds.
Da das Eis im Süden zwischenzeitlich doch aufgebrochen war, war der Fußweg nach Süden versperrt und das geplante Anlegen von Depots musste somit vorerst entfallen. Damit war unerwartet die Gelegenheit für die eigentlich gar nicht Erstbesteigung des Mount Erebus. Am 05. März 1908 brachen 6 Männer auf, Shackleton war nicht darunter, auch nicht Wild und Joyce, die während der Discovery-Expedition immerhin bis 900 Meter Höhe aufgestiegen waren. Keiner hatte Erfahrung als Bergsteiger, aber dennoch erreichten am 10. März alle den Gipfel, abgesehen von Brocklehurst, der wegen Erfrierungen an den Füßen im Lager blieb und auf den letzten Aufstieg verzichten musste. Nach einigen Messungen und Probennahmen erreichte die Gruppe schon einen Tag später wieder die Hütte auf Kap Royds.
Am Gipfelkrater des Mount Erebus, 10. März 1908.
Während der Überwinterung wurden die Forschungsarbeiten (Meteorologie, Polarlichter, Geologie, Biologie) aufgenommen. Shackletons wahre Stärke als Expeditionsleiter bestand darin, aus einer Gruppe unter schwierigen Umständen eine Einheit zu schmieden und Moral und Stimmung hoch zu halten. Alle mussten sich an der häuslichen Arbeit beteiligten, und zur Abwechslung trugen Feiern zu allen Anlässen, Diskussionen und nicht zuletzt die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte des Expeditionsblattes South Polar Times bei, die Shackleton während der Discovery-Expedition herausgegeben hatte. Gleichzeitig entstand mit Aurora australis das erste in der Antarktis gedruckte Buch überhaupt, zu dem die meisten Expeditionsmitglieder Beiträge aller Art beisteuerten. Etwa 100 Exemplare sollen entstanden sein, gebunden in Holz von leeren Kisten und Leder.
Unterdessen starben 4 von den verbliebenden 8 Ponys, da sie vulkanischen Sand gefressen hatten, so dass Shackleton sich gezwungen sah, die Teilnehmer der Südpolgruppe von 6 auf 4 zu reduzieren. Während der Überwinterung fingen so früh wie möglich die Vorbereitungen für die Schlittenreisen an, die im Frühjahr beginnen sollten. Gegen Mitte August begannen Märsche, um Depots bis zu 200 km südlich von Kap Royds einzurichten.
Der Marsch der Südgruppe
Am 29. Oktober 1908 begann der Marsch der Southern Party (Südgruppe), bestehend aus Shackleton, Adams, Marshall und Wild, sowie vorübergehend einer Unterstützungsgruppe. Für die Strecke von 2765 Kilometer hatte Shackleton 91 Tage berechnet, also eine Tagesleistung von gut 30 Kilometern. Schon bald stellte sich heraus, dass das nicht zu schaffen war, so dass die Rationen gekürzt wurden, um mehr Zeit zu haben. Das erste Pony musste schon am 21. November erschossen werden. Immerhin gelang es schon am 26. November, die südlichste Position der Discovery-Gruppe, damals erreicht am 30. Dezember 1902, zu passieren. Bis zum 01. Dezember geriet die Gruppe in schwieriges Gelände, und 2 weitere Ponys mussten erschossen werden. Entgegen der ursprünglichen Hoffnung zeigte sich, dass der Südpol nicht auf dem weitgehend ebenen Eisschelf in Meereshöhe liegen konnte, sondern dass der Aufstieg durch das Transantarktische Gebirge auf das Hochplateau unumgänglich war. Am 03. Dezember wurde ein großer Gletscher entdeckt, der eine brauchbare Route darzustellen schien. Shackleton nannte diesen Gletscher nach einem wichtigen Sponsor Beardmore Glacier, es war der größte seinerzeit bekannte Gletscher weltweit.
Camp unter dem Cloudmaker (Berg) auf dem Beardmore Gletscher.
Am 07. Dezember stürzte das letzte verbliebene Pony in eine Gletscherspalte. Nur Glück war es zu verdanken, dass es dabei nicht Frank Wild und einen der Schlitten in die Tiefe riss, aber der Verlust war dennoch empfindlich, da das Fleisch als Verpflegung für den Rückweg einkalkuliert gewesen war. Von nun an mussten die schweren Schlitten für eine Weile mühsam und zeitraubend in mehreren Etappen transportiert werden. Am 17. Dezember machte Wild eine bedeutende geologische Entdeckung, als er Kohleflöze zwischen den Sandsteinschichten der Berge fand.
Zu Weihnachten war die Gruppe noch gut 450 Kilometer vom Südpol entfernt. Unterdessen war die Stimmung der Männer untereinander infolge der Strapazen schlechter geworden, und es wurde klar, dass sie nicht genügend Lebensmittel hatten, um den Südpol zu erreichen. Shackleton kürzte noch einmal die bereits viel zu knappen Rationen. Am 26. Dezember war der Beardmore-Gletscher überwunden und das Polplateau in 3000 Metern Höhe erreicht. Alle litten an Kälte, Erschöpfung, Höhe und unzureichender Ernährung; Shackleton schrieb, es sei als würden die Nerven im Kopf um einen Korkenzieher gewickelt und herausgezogen werden. Das Jahr ging mit starkem Gegenwind und furchtbarer Kälte zu Ende. Am 04. Januar 1909 entschied Shackleton sich endlich offiziell, den Südpol aufzugeben. Stattdessen wollte er aber die Entfernung von 100 geographischen Meilen (185 Kilometer) unterschreiten.
Das südlichste Camp, um den 09. Januar 1909.
Am 09. Januar erreichten sie bei 88°23′S/162°E ihre südlichste Position, 97 Meilen (180 Kilometer) vom Südpol entfernt, die letzten 20 Meilen hatten sie in einem schnellen Marsch ohne jegliches Gepäck zurückgelegt. In einem Brief an seine Frau schrieb Shackleton später: „Besser ein lebendiger Esel als ein toter Löwe“. Damit bewies er eine Größe, die der eine oder andere seiner polarfahrenden Zeitgenossen wie der Nordpol-Ballonfahrer Salomon August Andrée, nicht hatte. Auch das führte dazu, dass die Nimrod-Expedition die erste große Antarktis-Expedition war, bei der keine Todesopfer zu beklagen waren; natürlich spielte dabei auch Glück eine Rolle.
Die südlichste Position, 09. Januar 1909: 88°23′S/162°E, nur 180 Kilometer vom Südpol entfernt.
Der Rückmarsch begann am 73. Tag der Südreise. Es blieben aber nur 51 Tage Zeit, da die Nimrod am 01. März 1909 nach Neuseeland aufbrechen sollte. Die 4 Männer zwangen sich bei knappen Rationen zu Tagesetappen von bis zu 47 Kilometern. Der Gesundheitszustand verschlechterte sich nicht zuletzt bei Shackleton. Am 26. Januar gingen die Vorräte aus und sie bekämpften den quälenden Hunger mit Kokain. Am 27. Januar brachen Adams und Wild zusammen. Marshall ging alleine zum nächsten Depot voraus, um eine Notration zu holen und die Gruppe zu retten. Ein Schlechtwettereinbruch zu dieser Zeit wäre das Ende von Shackleton, Marshall, Wild und Adams gewesen, so wie Scott Ende März 1912 zusammen mit Bowers und Wilson in einem lang anhaltenden Blizzard nur 18 Kilometer vom nächsten Depot entfernt starb. Bald darauf bekam Wild Magenprobleme und vertrug nur noch die knappen Hartkekse. In dieser äußerst prekären Situation kam es zu der berühmten Szene, wie Shackleton seinen Keks an Wild abtrat. Wild machte in seinem Tagebuch den später oft zitierten Eintrag „Ich nehme an, niemand sonst auf der Welt kann wirklich ermessen, welche Großzügigkeit und Sympathie darin zum Ausdruck kam; ich weiß es, und Gott ist mein Zeuge, dass ich es nie vergessen werde. Mit keinem Geld der Welt hätte man diesen einen Keks kaufen können“. Trotzdem hatten bald alle Durchfall, was vermutlich an verdorbenem Pferdefleisch lag.
Shackleton auf der Reise nach Süden mit einem zerbrochenen Schlitten.
Die nächsten Wochen des Marsches waren von äußerster Anstrengung, Hunger, nachlassender Gesundheit und somit von Angst um die sichere Rückkehr geprägt. Am 23. Februar erreichte die Gruppe ein 4 Wochen zuvor von einer Schlittenhundegruppe unter Joyce angelegtes Depot, so dass die Lage sich hinsichtlich der Versorgung entschärfte. Angesichts der davoneilenden Zeit, die zudem während es weiteren Schneesturms verstrich, entschied Shackleton sich für einen Gewaltmarsch von 125 Kilometern zusammen mit Wild nach Hut Point, um die Nimrod vor Abfahrt zu erreichen und aufzuhalten, während der gesundheitlich stärker angeschlagene Marshall zusammen mit Adams im Zelt warten sollte. Am 28. Februar erreichten Shackleton und Wild Hut Point und setzten dort Scotts magnetische Messhütte in Brand in der Hoffnung, dass der Rauch bis Kap Royds sichtbar sein würde. Tatsächlich kam bald darauf die Nimrod in Sicht. Shackleton ließ es sich nicht nehmen, selbst die Gruppe zu leiten, die Adams und Marshall vom Eisschelf holte. Am 04. März 1909 waren alle an Bord der Nimrod. Sie hatten den letztlich nicht erfolgreichen Vorstoß zum Südpol knapp überlebt, nach 2740 Kilometern in 128 Tagen mit Vorräten, die für 91 Tage berechnet gewesen waren.
Wild, Shackleton, Marshall und Adams nach der Südreise zurück auf der Nimrod.
Der Marsch zum südlichen Magnetpol
Der australische Geologe Edgeworth David, immerhin 51 Jahre alt, übernahm die Leitung der „northern party“, deren Aufgabe das Erreichen des Magnetpols war, während Shackleton mit der Südgruppe zum Südpol unterwegs war. Zur Nordgruppe gehörten neben David auch Douglas Mawson, ebenfalls Geologe, und der Arzt Alistair Mackay. Diese Gruppe hatte sich schon bei der Erstbesteigung des Mount Erebus bewährt. Gute Stimmung war auch nicht unwichtig, wenn man bedenkt, dass die 3 zusammen in einem Schlafsack nächtigten.
Die Nordgruppe am Kap Bernacchi.
Am 05. Oktober 1908 brach die Nordgruppe auf. Ihr Gepäck mussten die 3 Männer selbst ziehen, da die Ponys und Hunde bei der Südgruppe und den Depotreisen im Einsatz waren. Der Weg über das Meereis im McMurdo Sound war zäh, und um das Programm einschließlich Vorstoß zum Magnetpol durchzuführen, entschied David, die Rationen zu halbieren und alles, was entbehrlich war, zurückzulassen. Die Nordenskjöld-Eiszunge und die Drygalski Eiszunge wurden gequert, deren tückische Gletscherspalten gefährlich waren. David musste nach einem Sturz in eine Spalte von Mawson gerettet werden.
Nach dem Anstieg über den Reeves-Gletscher erreichten David, Mawson und Mackay am 27. Dezember 1908 das Hochplateau und kamen dort besser voran. Die genaue Position des Magnetpols unterliegt täglichen Schwankungen und war daher nicht einfach festzustellen, aber am 16. Januar 1909 erreichten die 3 Männer nachmittags bei 72°15′S/155°16′E ihr Ziel. Wie auch Shackleton im Süden eine Woche zuvor, hatten sie das letzte Stück in einem langen, schnellen Marsch ohne Gepäck zurückgelegt, so dass sie sich am Magnetpol auf das Nötigste beschränkten: Flagge hissen, Gegend für die Krone in Besitz nehmen und Gruppenfoto, gefolgt von einer schnellen Kehrtwende, begleitet von einem herzhaften „Gott sei Dank“. Tatsächlich hatte Mawson am Morgen dieses Tages vorgeschlagen, im Zelt abzuwarten, bis der Magnetpol im Rahmen seiner täglichen Fluktuationen zu ihnen kommen würde.
Die Nordgruppe (von links: Mackay, David, Mawson) am antarktischen Magnetpol, 16. Januar 1909.
Wegen mangelnder Zeit und des mutmaßlich aufgebrochenen Eises im McMurdo Sound mussten die Männer hoffen, an der Küste von der Nimrod gefunden zu werden, die dort verabredungsgemäß nach der Nordgruppe suchen sollte. Zeitnot, das Verfehlen eines Depots und schlechtes Wetter, dass die Sichtung der Gruppe durch die gar nicht weit entfernte Nimrod verhinderte, ließen die Lage prekär werden. Schließlich traf die Nimrod am 04. Februar in Relief Inlet nördlich der Drygalski Eiszunge auf die Nordgruppe, so dass diese gerettet war. Auch hier hätte ein weiterer Schlechtwettereinbruch oder ein früher Winterbeginn mit Zufrieren des Meeres in Ufernähe leicht zu einer Katastrophe führen können. Es ist unglaublich, was für eine Ansammlung glücklicher Zufälle überhaupt dazu führte, dass die Westgruppe von der Nimrod auf über 300 Kilometern Küstenlinie überhaupt gefunden wurde: Die Nimrod hatte die betreffende Stelle bereits passiert, war aber Stunden später noch einmal umgekehrt, weil ein kleines Stück der Küste hinter Eisbergen verborgen gewesen war. In dieser Zeit hatten David, Mawson und Mackay die betreffende Stelle erst erreicht. Ohne die Eisberge wäre die Nimrod weiter gefahren, und die Chancen der Westgruppe, aus eigener Kraft Kap Royds zu erreichen und zu überleben, wären marginal gewesen.
David, Mawson und Mackay hatten in 122 Tagen über 2300 Kilometer zurückgelegt, viel davon durch schwieriges Gelände, weitgehend ohne vorher angelegte Depots und ganz ohne Ponys. Ihre Leistung steht nicht hinter jener der Südgruppe zurück.
Die Westgruppe
Um das Programm der Entdeckungsfahrten vollständig zu machen, machte sich eine dritte Gruppe am 01. Dezember auf, um dem McMurdo Sound zu überqueren und in den „western mountains“ (Transantarktisches Gebirge im Bereich der Trockentäler) geologische Erkundungen zu machen. Nach Anlegen eines Depots für die Nordgruppe und einer Rückkehr nach Kap Royds machte diese Westgruppe aus Leiter Armitage, Priestley und dem immer noch an seinen erfrorenen Füßen leidenden Brocklehurst sich auf, um den Ferrar Glacier hochzusteigen, was aus zeitlichen Gründen aber nicht ganz gelang.
Camp der Westgruppe, Cathedral Rocks.
Anweisungsgemäß fanden die 3 sich Anfang Januar am Butter Point ein, wo sie auf die Nordgruppe hätten stoßen sollen, die aber nicht dort war. Nach einigen kleineren Exkursionen wurde die Westgruppe schließlich am 26. Januar 1909 von der Nimrod abgeholt. Beinahe wären Armitage, Priestley und Brocklehurst kurz zuvor auf einer Eisscholle ins offene Meer abgetrieben. So kann man sagen, dass letztlich alle 3 Überland-Reisegruppen der Nimrod-Expedition nur mit Glück überlebten.
Warten auf die Südgruppe und Heimreise
Nun stand nur noch die Rückkehr der Südgruppe unter Shackleton aus. Allerdings weigerte sich Frederick Evans, der nach den Konflikten des Vorjahres England als Kapitän der Nimrod abgelöst hatte, am Kap Royds Kohlen und Vorräte auszuladen, um der Südgruppe dort das Überwintern zu ermöglichen. Auch wurde kein Suchtrupp ausgeschickt, um Shackleton entgegen zu kommen. Eine Gruppe von 6 Männern unter Mawson bereitete sich auf eine weitere Überwinterung vor, um die Südgruppe in Empfang zu nehmen. Gerade noch rechtzeitig erreichten Shackleton und Wild am 01. März Hut Point und konnten sich von dort bemerkbar machen, so dass diese Pläne hinfällig wurden. Schlechtes Wetter und Eis verhinderten in den nächsten Tagen, verbliebene persönliche Gegenstände von der Hütte am Kap Royds und geologische Proben der Nordgruppe auf Depot Island zu holen, wie auch die Erkundung der Küste westlich von Kap Adare. Am 09. März 1909 verließ die Nimrod die Küste der Antarktis und erreichte am 22. März die Südküste von Stewart Island in Neuseeland. In Lyttelton und Sydney gab es triumphale Empfänge, dann trennten sich die Wege für die Expeditionsteilnehmer. Shackleton begann schon auf der Rückfahrt nach England, an dem zweibändigen Werk The Heart of the Antarctic zu schreiben, in dem er die Nimrod-Expedition schilderte, ergänzt um Berichte der West- und der Nordgruppe.
Auch der öffentliche Empfang in England verlief insgesamt triumphal, wenn auch Scott und die diesen unterstützende Royal Geographical Society sich einiger Sticheleien nicht enthalten konnten. Zwar konnte die RGS Shackleton die Polarmedaille in Gold nicht verweigern, aber ihr Präsident Markham stellte es dem Hersteller frei, diese ein wenig kleiner anzufertigen als das Exemplar, das Scott Jahre zuvor erhalten hatte. Frechheit … aber es wird wohl kaum jemand nachgemessen haben, und der Ritterschlag von König Edward VII und andere Ehrungen auch aus anderen Ländern überstrahlten die Nickeligkeiten von Markham und Scott in der Öffentlichkeit bei weitem. Auch anfängliche Zweifel an der tatsächlich erreichten Position von Shackletons Südgruppe erwiesen sich bei näherer Prüfung als unberechtigt. Finanziell allerdings war Shackletons Situation auch nach der Veröffentlichung des Buches und Vorträgen immer noch prekär. Nur ein weiterer öffentlicher Zuschuss und das Erlassen einiger Schulden bewahrte ihn vor der Insolvenz, nicht aber vor einem schlechten Ruf in Finanzangelegenheiten. Dazu trug auch bei, dass die Nimrod nicht in der Lage gewesen war, während der Überwinterung 1908 die Forschungsfahrten erfolgreich durchzuführen, die eigentlich verabredungsgemäß Voraussetzung für die großzügige Unterstützung der Regierungen von Australien und Neuseeland gewesen waren.
Die drei Überlandreisen sowie die Erstbesteigung des Mount Erebus hatten die geographische Kenntnis der Antarktis entscheidend erweitert und letztlich auch den Weg zum Südpol über den Beardmore Gletscher gewiesen, den Scott 1911/12 nahm. Die wissenschaftlichen Arbeiten waren auf allen Gebieten erfolgreich durchgeführt worden, erste zusammenfassende Ergebnisse wurden bereits im zweiten Band von The Heart of the Antarctic veröffentlicht, weitere Fachveröffentlichungen folgten über viele Jahre. Neben dem Erreichen einer Position nur 97 geographische Meilen (185 Kilometer) vom Südpol entfernt gehört der erfolgreiche Vorstoß der Nordgruppe zum Magnetpol zu den großen Leistungen der Nimrod-Expedition. Auch wenn es nicht gelang, den Südpol zu erreichen, war diese Expedition von den insgesamt drei, die Shackleton selbst organisierte und leitete, die erfolgreichste. Dafür ist sie bis heute erstaunlich wenig bekannt, da sie in der öffentlichen Wahrnehmung durch das bald folgende Rennen zum Südpol zwischen Amundsen und Scott sowie Shackletons späterer Endurance-Expedition zurücksteht.
Letztlich hat Amundsen es in seinem Buch Sydpolen besser als alle anderen formuliert: „Selten hat ein Mann einen größeren Triumph gefeiert. Selten hat ein Mann es mehr verdient.“ und: „Einen besseren Beweis dafür, was Männer ausrichten können, wenn sie all ihre Kraft und ihren Willen einsetzen, gibt es in der Geschichte kaum. … Shackletons Großtat ist der stolzeste Abschnitt in der Geschichte der Erforschung der Antarktis.“ So schrieb Amundsen es, nach dem er selbst den Südpol erreicht hatte. Gut gesagt, und so kann es stehenbleiben.
Südlicht (Aurora australis) über der Hütte am Kap Royds.