Seit Tagen beobachten wir schon mit viel Spannung die Eiskarte. Was nach ein paar schön bunten Quadratzentimetern aussieht, sind tatsächlich hunderte Meilen Treibeis, das sich im Rossmeer erstreckt, vor allem im nördlichen Rossmeer. Gelb ist nicht vitaminreiche Zitrone, sondern halb offenes Wasser. Violett ist keinesfalls Heidelbeere, sondern eine geschlossene Packeisdecke, viel härter als eine schwarzbraune Haselnuss und ganz und gar ungenießbar.
In der Arktis schwindet das Eis, in der Antarktis schlägt es Rekorde. Das Rossmeer hat viel Eis diesen Sommer.
Das hält uns alle hier auf der Ortelius seit Tagen in Atem, alle beugen sich regelmäßig über die Eiskarten, verfolgen die Entwicklung, diskutieren, was all die Farben für uns bedeuten können. Der Grad der Erfahrung, mit der das an Bord diskutiert wird, variiert, wie auch die von Shackleton so gepriesene Geduld. Die Eiskarten sind immer grob, oft enthalten sie Fehler, und was sich in den nächsten Tagen tut, wissen auch die Satelliten nicht.
Apropos Shackleton. Am 20. Januar 1914 saß die Endurance im Weddell-Meer im Eis fest. Das ist genau heute vor 100 Jahren.
So bleiben wir gespannt. Die ersten Eisschollen driften um das Schiff herum. In der Sonne ein wunderbarer Anblick.
18.-20. Januar 2015 – Wie Shackleton schon sagte, die wichtigste Eigenschaft für Polarfahrer ist Geduld. Und wenn es hier natürlich nicht um einen antarktischen Winter in einer kleinen Hütte geht, wo alle monatelang zusammen um einen Tisch sitzen, sondern nur um einige Tage auf See, so reicht das doch völlig aus, um die Uhren langsamer gehen zu lassen. Manchem fällt das vielleicht gar nicht leicht, aber ich glaube, die meisten genießen es. Zuhause stehen viele ständig unter Strom, immer erreichbar, Dauerstress. Wann hat man den Luxus, stundenlang dem Wind hinterherschauen zu können, darauf wartend, dass gelegentlich einer der nun selteneren Kap- oder Riesensturmvögel vorbeizieht? Sogar ein Wanderalbatros wurde neulich zu früher Stunde gesichtet, fernab der Konvergenz, aber diesen ewigen Wanderern ist ja kein Weg zu lang.
Jeder Tag ist anders. Einen Tag war der Wind kräftig genug, um den einen oder anderen Magen von seinem Inhalt zu befreien, ein Tag war grau, rund ums Schiff schien kaum noch eine Welt zu existieren. Einen Tag, es war nach Verlassen von Peter I Island, hatten wir einige Sichtungen von Schwertwalherden. Heute früh brachen die Rücken von Zwergwalen durch die Wellen, wie um ein paar der eher seltenen Sonnenstrahlen einzufangen.
Natürlich gibt es diverse Vorträge und Filme. Michael erklärt die verschiedenen Schwertwal-Subtypen und Victoria erzählt die Geschichten aus heroischen Antarktis-Zeiten. Geschichten? Heldentaten! Das sind nur ein paar Beispiele, wir haben eine Menge Stoff auf Lager. Aber ich muss mich hier mal öffentlich über Victoria Salems historische Vorträge begeistern. Man müsste eine Fernsehserie daraus machen. Ich, sonst sicher kein Fernseh-Junkie, würde einschalten. Hochfrequente Satzkunstwerke, in jedem Nebensatz eine gehaltvolle Pointe, in 40 Minuten gefühlt der Inhalt mindestens eines gut recherchierten Buches. Ich freue mich auf mehr 🙂